Die Erlebnisse eines Theologiestudenten zu Zeiten des Umbruchs
Der Lärm beschleunigender Automotoren schallt durch die geöffnete Balkontür. Markus Bräuer sucht in einem seiner sieben, bis fast an die Decke gefüllten Bücherregalen nach dem Buch „Pfarrer, Christen und Katholiken“. Seine Wohnung in Berlin-Charlottenburg gleicht einer Bibliothek.
Die Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen, als er das Zitat von Erich Mielke, dem Minister für Staatssicherheit in der DDR, auf dem roten Einschlag in großen, breiten Lettern vorliest. Mielke soll seine damaligen kirchlichen Feinde wirklich mit den Worten „Pfarrer, Christen und Katholiken“ beschrieben haben. Das Buch thematisiert den Zusammenhang zwischen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR und der Kirche.
Markus Bräuer ist 1967 geboren und in einem Dorf nahe Brandenburg an der Havel aufgewachsen. Dort hat er den Konfirmandenunterricht bei Pfarrer Hans Simon besucht, der 1984 an die Ostberliner Zionskirche gewechselt ist. Im Keller des Gemeindehauses befand sich damals die Umweltbibliothek, in der sich Bürgerrechtler trafen und –was in der DDR verboten war– eigene Publikationen erstellten.
Markus Bräuer trägt ein dunkelblaues Hemd, dazu passende blaue Anzugsschuhe, eine beige Stoffhose, sowie eine markante braune Brille.
Warum wollte er zur Zeit der DDR evangelischer Pfarrer werden? „Mir war wichtig, Menschen zu vermitteln, wie politisch und aktuell biblische Aussagen [sind] […] und welchen Freiraum des Denkens die evangelische Kirche schon in der DDR bot.“
Studiert hat Markus Bräuer Theologie in Ostberlin am Sprachenkonvikt, einer in der DDR staatlich nicht anerkannten Theologischen Hochschule. Damals nur mit 120 Kommilitonen. Nach dem Studium arbeitete er als Vikar bei seinem früheren Dorfpfarrer Hans Simon in der Zionskirche. Dessen Mut, sich für die Bürgerrechtsgruppen einzusetzen, hat ihn fasziniert. In der Kirche konnten in der DDR tabuisierte Themen diskutiert werden: wie groß ist die Umweltverschmutzung, wie geht die DDR mit Systemkritikern um, wie werden Behinderte begleitet oder wie hilft man Alkoholikern? Es ging um Themen, die in der DDR sonst zumeist verschwiegen wurden. „Die evangelische Kirche bot schon damals die Möglichkeit, über die [vom Staat vorgegebene DDR-Denkweise –Anm. d. Verf.] hinaus zu diskutieren, nach welchen Idealen, nach welchen Werten und in welchem Glauben Menschen leben wollen“, erklärt er und nickt lächelnd.
„In der Gemeindearbeit ging es mir darum, im Sinne Dietrich Bonhoeffers Kirche für andere zu sein“. Ihm ist wichtig geworden, Menschen nicht allein nach ihrer Leistung zu beurteilen. „Der Mensch ist mehr als das Werk seiner Hände“, zitiert Markus Bräuer den Kirchenreformer Martin Luther. „Deshalb ist der Mensch auch mehr als seine Fehlleistung. Er ist mit Würde beschenkt, […] die er nicht verlieren kann. Auch dann nicht, wenn er alt, krank oder behindert ist.“
Lässig in der Sofaecke sitzend, mit überschlagenen Beinen wirkt er, als würde er von einem Film oder einem Buch erzählen und nicht von seiner eigenen Geschichte.
An den Abend, an dem am 9. November 1989 die Berliner Mauer gefallen ist, erinnert sich der damalige Theologiestudent noch genau. Die Nachricht hatte er im Fernsehen mitbekommen und war dann direkt mit seinem alten Trabi zum Grenzübergang Bornholmer Straße gefahren.
Markus Bräuer greift nach seinem alten hellblauen DDR-Personalausweis, welchen er bereits neben sich drapiert hatte. Eine Karte und ein gefaltetes Papier fallen aus dem kleinen Büchlein heraus. Auf hellgrünem Papier, neben dem schwarz-weißen Foto leuchtet in pinkem Schriftzug ein Stempel. Eigentlich sollte dieser Stempel der Grenzoffiziere bedeuten, einmal aus der DDR ausgereiste Bürger sollten nicht mehr die Erlaubnis haben, wieder einzureisen.
Da jedoch so viele Leute nach Westberlin strömten und wie Markus Bräuer den Ku’damm rauf- und runter gefahren sind, konnten die „Grenzer“ die Aus- und Einreise schon bald nicht mehr kontrollieren. Markus Bräuer hatte damals seine schwangere Frau zu Hause im Osten gelassen. Allein die Vorstellung, er hätte eigentlich nicht wieder zu ihr zurückgedurft, beschäftigt ihn noch heute.
Bräuer beugt sich vor, lacht kurz und erzählt dann stolz die Geschichte der Stürmung der Stasizentrale am 15. Januar 1990. Er war mittendrin. „Überall waren bewaffnete Stasi-Leute und natürlich kannten wir uns nicht aus. Hinter welchen Türen lagen die Akten von denjenigen, die von der Staatssicherheit bespitzelt worden sind und wurden die Dokumente gerade schon vernichtet, um keine Spuren zu hinterlassen?“
Er blickt von seinem Smartphone auf und erzählt, er habe nach der friedlichen Revolution von Mai 1994 bis Ende 2000 als Pfarrer an der Zionskirche gearbeitet, an der auch Dietrich Bonhoeffer in den 1930 Jahren Pfarrer gewesen ist. Heute ist Bräuer seit zwölf Jahren als Medienbeauftragter der EKD unter anderem für die ZDF-Gottesdienste, Deutschlandfunknachrichten oder den YouTube-Kanal „Jana“ verantwortlich. Sein Ziel ist es, auch der jüngeren Generation auf zeitgemäße Weise zu vermitteln, wie aktuell der christliche Glaube ist. Genauso wie es sein damaliger Pfarrer Hans Simon getan hat, zu dem Bräuer immer noch Kontakt pflegt.
Inmitten der hellen Wohnung mit zeitgenössischen Bildern steht ein alter, aus dunklem Holz gefertigter Sekretär, welcher kaum ins Bild zu passen scheint. Genauso wie die Erinnerungen an seine DDR-Vergangenheit, die in seinem jetzigen Alltag kaum noch zu finden ist, aber immer noch dazugehört.
Er schließt seine Reise in seine Vergangenheit mit den Worten: „Der Tag, an dem die Mauer gefallen ist, war einer der glücklichsten Tage in meinem Leben. Ich wusste, dass sich mein Leben für immer verändern würde.“
Markus Bräuer stellt das dicke rote Buch von Gerhard Besier mit ausgestrecktem Arm wieder in die rechte oberste Ecke seines Bücherregals zurück und lächelt.
Diesen Teil seiner Geschichte hat er abgeschlossen und immer sicher aufbewahrt, falls er mal danach gefragt werden sollte.