Seit über einem halben Jahr muss die Welt das Coronavirus (Sars-CoV-2) nun als Teil der Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Umwelt akzeptieren. Und schnell war klar, die einzige Lösung, um wirklich gegen die Pandemie anzukommen und wieder Normalität in den Alltag von 7,8 Milliarden Menschen zu bringen, ist ein Impfstoff. Dieser soll die Gesellschaft nach und nach immunisieren, um die Situation zu verbessern.
Doch die Entwicklung, Erprobung und Zulassung eines Impfstoffs entpuppen sich als sehr kompliziert. Denn noch nie musste ein Impfstoff so schnell wie in der aktuellen Pandemie gefunden werden. Und das stellt einen Corona-Impfstoff vor erhebliche Probleme – einen echten Hürdenlauf, der auch ethische Fragen aufwirft.
Der Spickzettel hat hierzu unsere Biologiefachlehrer, Herrn Dr. Nußbaum und Herrn Dr. Neeff, zum biologischen Hintergrund eines Corona-Impfstoffs befragt und sich an Religionsfachlehrerin Frau Dietrich für eine ethische Einschätzung gewandt.
Wie wirken bisherige Impfstoffe?
Herr Dr. Nußbaum erklärt, bei einer Virusinfektion dockt das Virus auf der Oberfläche von Zellen an und es verbleiben Erkennungsmerkmale der Viren auf der Zelle. Um neue Viren zu bilden, zerstört sich die umprogrammierte Zelle und setzt die neuen Viren frei. Bestimmte Immunzellen erkennen nun die Erkennungsmerkmale der Viren und bilden Antikörper, „die ab sofort eindringende Viren des gleichen Typs erkennen und neutralisieren können. Der Mensch ist immun. Bei Impfstoffen wird ein abgeschwächtes Virus injiziert, das nicht mehr krank machen kann, aber dieselben Erkennungsmerkmale besitzt wie das Virus. So werden [vom Immunsystem] die Antikörper gebildet, ohne die Viruskrankheit durchgemacht zu haben.“
„Impfungen schützen nicht nur den Geimpften selbst, sondern auch Kontaktpersonen. So können lokale Ausbrüche verhindert und auch Infektionsketten unterbrochen werden. Wenn ausreichend viele Menschen der Bevölkerung geimpft werden, lässt sich so auch eine Herdenimmunität erreichen“, erläutert Herr Dr. Neeff.
Wie viel Zeit wird normalerweise für die Entwicklung eines Impfstoffs in Anspruch genommen?
Herr Dr. Neeff erklärt: „Für die Zulassung von Covid-19-Impfstoffen ist in den EU-Ländern die europäische Arzneimittelagentur (EMA) zuständig. Diese gewährleistet hohe Sicherheits- und ethische Standards bezüglich einer Zulassung eines geeigneten Impfstoffs.“
„In der Regel dauert die Entwicklung eines Impfstoffs acht bis zehn Jahre“, berichtet Herr Dr. Nußbaum.
Herr Dr. Neeff deutet auf die sieben Etappen bis zur Impfstoffzulassung hin.
Nach Analyse des Virus „wird der Impfstoff im Labor entwickelt und dann an Zellkulturen getestet. Zeigt er hier den gewünschten Effekt, wird er im Tierversuch auf Wirkung und Sicherheit getestet. Erst danach kommt es zur sog. klinischen Testung am Menschen“, führt Herr Dr. Nußbaum aus.
Diese gliedert sich in drei Phasen, in denen die Dosis ermittelt, Antikörperentwicklung und Krankheitsschutz sowie Nebenwirkungen geprüft werden müssen. Hierzu ist zur Testung an mehreren Tausend Freiwilligen bereits eine Großproduktion des Impfstoffs von Nöten.
„Erst nach der Auswertung dieser Phase wird die Zulassung beantragt“, sagt Herr Dr. Nußbaum.
Wie unterscheidet sich dieser Entwicklungsprozess nun von einem geplanten Corona-Impfstoff?
„Im Fall von Corona hat man auf der einen Seite den Vorteil, dass man auf ähnlichen Impfstoffen [von anderen Corona-Viren] aufbauen kann und somit einen großen Teil der vorklinischen Phase einspart. Außerdem winkt dem Unternehmen, das den ersten Impfstoff auf den Markt bringt, ein enormer Gewinn, sodass schon vor Abschluss früherer Phasen mit der nächsten Phase begonnen wird. Aufgrund der aktuellen Situation forschen fast alle Forschungsinstitute an Corona, sodass es zwangsläufig viel schneller zu Ergebnissen kommt“, erläutert Herr Dr. Nußbaum.
„Zurzeit laufen über 200 Impfstoffprojekte. Es gibt mehrere Strategien, die bei der Suche verfolgt werden“, berichtet Herr Dr. Neeff.
„Optimalerweise würde ein Impfstoff gegen Sars-CoV-2 einen lebenslangen Schutz ohne Nebenwirkungen hervorrufen. Allerdings ist dies illusorisch, da es generell keinen solchen Impfstoff gibt“, merkt Herr Dr. Neff an.“
Welche verschiedenen Ideen gibt es für einen Corona-Impfstoff aktuell und wie wirken diese?
„Einige der Impfstoffe für Corona basieren auf alten etablierten Impfstoffen. Einige Impfstoffe, die sog. RNA-Impfstoffe, verwenden jedoch ein völlig neues Verfahren“, beschreibt Herr Dr. Nußbaum.
Herr Dr. Neeff erläutert verschiedene Strategien: „Bei einem Impfstoff mit inaktiven Virusproteinen [Totimpfstoff] enthalten gewisse Impfstoffe bestimmte Viruseiweiße oder aber inaktivierte Sars-CoV-2-Viren und rufen so das Immunsystem auf den Plan und somit eine entsprechende Immunantwort.“
Bei einem Impfstoff mit lebenden Vektorviren [veränderte Viruspartikel, welche die Einschleusung von genetischem Material in Zellen ermöglichen] vermehren sich diese harmlosen Viren in menschlichen Zellen, lösen jedoch keine Krankheit aus. Sie lassen sich in Zellkulturen gut vermehren. Die Zellkulturen werden dann z.B. durch Gene der Oberflächeneiweiße des Sars-CoV-2-Virus ergänzt. Dadurch werden die Vektorviren maskiert und spielen dem Immunsystem eine Infektion mit Sars-CoV-2 vor. Die baut dann einen Immunschutz auf, der eine Infektion abwehren bzw. eine Erkrankung erheblich abmildern kann.
Bei einem Impfstoff mit RNA nutzt man die sog. Boten-RNA (Messenger-RNA).“
„Der Bauplan für alle Proteine in unserem Körper und auch in Viren oder Bakterien ist in der Erbinformation gespeichert. Mit diesen Informationen werden in der sog. Translation Proteine hergestellt. Die Erkennungsmerkmale von Viren sind auch Proteine. Bei dem neuen Impfstoff wird nun RNA mit den Informationen für die Proteine der Erkennungsmerkmale der Viren in den Menschen injiziert. Diese RNA wird von menschlichen Zellen in Proteine übersetzt. Die Immunzellen sollen nun diese Proteine erkennen und ebenfalls Antikörper bilden“, beschreibt Herr Dr. Nußbaum.
„Dies ist ein neuen Verfahren und es ist zurzeit noch kein solcher Impfstoff auf dem Markt“, merkt Herr Dr. Neeff an.
„Sollte das funktionieren, wäre das ein enormer Fortschritt, denn RNA herzustellen ist viel einfacher als abgeschwächte Viren. Das wäre also auch für andere Krankheiten eine vielversprechende Methode“, erläutert Herr Dr. Nußbaum.
Bis es einen Impfstoff gibt, appelliert Herr Dr. Neeff daran, sich an die AHA+L-Regeln zu halten sowie sein Freizeitverhalten einzuschränken und die sog. Corona Warnapp zu verwenden, denn „wann ein Impfstoff kommt, ist zurzeit noch offen.“
Zusätzlich stellt uns ein Corona-Impfstoff vor eine ethische Hürde, welche Frau Dietrich für uns auf Grundlage eines christlichen Menschenbildes und einer christlichen Ethik näher beleuchtet hat:
Auch Frau Dietrich erkennt die Probleme, die der Impfstoff meistern muss:
Wie gehen wir mit dem Impfstoff um?
„Wenn wir einen Sachverhalt näher betrachten, dann merken wir, dass schnelle und einfache Antworten oft gar nicht möglich sind. Angenommen, der Impfstoff steht bereit, wie gehen wir jetzt damit um?
Vor dem Hintergrund der Gleichheit der Menschen ist in jedem Fall zu berücksichtigen, dass alle Menschen Zugang zu einem Impfstoff haben sollten. Da aber nun sicherlich zunächst nicht für alle Impfwilligen ausreichend Impfstoff zur Verfügung stehen wird, muss hier meines Erachtens genau geschaut werden, wie denn Impfdosen gerecht verteilt werden können.“
„Ich halte es aber für unbedingt notwendig, dass im Sinne der Fürsorge für Benachteiligte und Arme besonders darauf geachtet wird, dass nicht reiche Nationen sich Impfstoffkontingente sichern können und so ärmere Länder leer ausgehen.
Drei zentrale Werte sollen nach Ansicht internationaler EthikerInnen als Leitlinien für die Impfstoffverteilung unter den Ländern gelten; erstens: Der Nutzen für die Menschen und Begrenzung von Leid, zweitens: Die Priorisierung von Benachteiligten und drittens: Die gleiche moralische Sorge für alle Menschen.
Das Robert-Koch-Institut und die Ständige Impfkommission entwickeln auch für Deutschland ein Modell mit ethischen Aspekten zur Verteilung eines möglichen Impfstoffs. Auch in diesen Überlegungen spielt die Frage nach der Gerechtigkeit in der Verteilung eine wichtige Rolle, wenn limitierte Impfstoffmengen zur Verfügung stehen. Der Blick auf das, was dem Anderen hilft, was seine Not lindert, der Gedanke der Solidarität im Sinne der christlichen Ethik der Nächstenliebe spielt hier meines Erachtens eine ganz wesentliche Rolle.“
„Mit einer anderen Frage im Zusammenhang der Corona-Impfung hat sich der Ethikrat der evangelischen Kirche befasst: So wird eine hier und da geforderte Einführung einer Immunitätsbescheinigung abgelehnt und mit dem Hinweis verbunden, dass es keine allgemeine Corona-Impfpflicht in Deutschland geben soll.“
„Eine Impfpflicht ist in Deutschland möglich, wird aber z.Zt. für Covid-19-Impfungen nicht in Erwägung gezogen“, führt er Dr. Neeff an.
Frau Dietrich weist auch auf die ethische Relevanz der Entwicklungsstrategien eines Corona-Impfstoffs hin: „Auch wenn wir uns schnell einen Impfstoff wünschen, müssen alle Entwicklungen unter kontrollierten Bedingungen und bei Einhaltung ethischer Standards durchgeführt werden; auch das stellt für alle Verantwortlichen sicher eine Herausforderung dar und bedeutet aus christlicher Sicht auch den bestmöglichen Schutz des ungeborenen Lebens und der Tierwelt.“
Zum Abschluss schildert sie ganz persönlich ihre Sicht: „In all dem glaube ich das bestimmt: Gott ist nicht der Erfinder, nicht der Initiator von Corona, sondern Gott ist ein Gott der Liebe, der mitleidet, wenn es den Menschen nicht gut geht. Er hat uns unser Herz und unseren Verstand gegeben, damit wir kreativ Wege aus der Pandemie finden. Gott will, dass wir leben und ist aber auch da, wo Leben durch Krankheit oder Tod an Grenzen stößt. Seine Liebe zu uns Menschen, die kennt keine Grenzen, sondern kann viel mehr, auch Grenzen überwinden!“
Update:
Mittlerweile sind verschiedene Pharmaunternehmen mit der Entwicklung eines mRNA-Corona-Impfstoffs so weit, dass sie Zulassungen beantragen.
So stellte Pfizer aus den USA und das deutsche medizinische Forschungsinstitut BioNTech den ersten Impfstoff her, für welchen in den USA eine Notzulassung beantragt wurde. Auch die EMA genehmigt bereits ein Schritt-für-Schritt Zulassungsverfahren. In der dritten Phase der Erprobung wies der Impfstoff eine erfolgreiche Wirksamkeit bei rund 95% der TeilnehmerInnen auf, ohne ernste Nebenwirkungen. Das ist ein sehr vielversprechendes Ergebnis.
Der Beobachtungszeitraum der Wirkung des Impfstoffs liegt jedoch noch unter der Empfehlung der WHO von drei Monaten.
Auch das amerikanische Pharmazieunternehmen Moderna hat einen mRNA-Impfstoff vorgestellt, welcher eine Wirksamkeit von 94,5% habe, ebenfalls ohne ernste Nebenwirkungen.
Im Gegensatz zu dem BioNTech-Impfstoff soll der Moderna-Impfstoff auch bei Kühlschranktemperaturen über 30 Tage hinweg haltbar sein. Bei dem BioNTech-Impfstoff hingegen muss das Vakzin auf minus 70 Grad gekühlt werden. Dieses stellt die Logistik vor immense Herausforderungen.
Auch Moderna beantragte eine Notfallzulassung des Impfstoffs in den USA.
Wie lange die Zulassung der Impfstoffe nun wirklich dauert, ist noch ungewiss. Ebenfalls ist noch nicht geklärt, wie sich die Produktionskapazitäten der Impfstoffe gestalten und die weltweite Vergabe nach der Zulassung aussehen soll.
Aktuell arbeiten schon viele Länder daran, ein Netzwerk von Impfzentren aufzubauen.